Sie hießen mit Nachnamen Adler, Hecht, Katz oder Strauß, sie lebten als ganz normale Nachbarn unter ihren christlichen Mitbürgern – bis zur Pogromnacht des Jahres 1938. In der Nacht vom 10. auf den 11. November wurden fast alle Urberacher und Ober-Röder jüdischen Glaubens, die trotz der zunehmenden Repressionen durch die Nazis geblieben waren, zunächst aus ihrem Heimatort vertrieben und später in die Vernichtungslager im Osten deportiert, wo keiner überlebte. An sie erinnert seit 2010 der Gedenkort in der Bahnhofstraße 18, dort, wo einst das Wohnhaus der Familie Katz stand und nebendran das der Adlers. Hier, an diesem Gedenkort mit dem gepflasterten Davidsstern und den beiden Stelen mit Namen und Erläuterungen, setzte Rödermark am vergangenen Samstag, an dem sich die Pogromnacht, für die die Nazis das schreckliche Wort „Reichskristallnacht“ erfanden, zum 86. Mal jährte, ein deutliches Zeichen gegen Antisemitismus. Fast 100 Menschen versammelten sich zum Gedenken.
Bürgermeister Jörg Rotter verwahrte sich gegen Kritik an der „Erinnerungskultur“, gegen Vorwürfe, diese Form des Gedenkens sei antiquiert, produziere „Worthülsen“. Man pflege die Erinnerung an die Opfer des damaligen Terrorregimes nicht in einem luftleeren Raum, nicht in einem erstarrten, rückwärtsgewandten Ritual. Die gesellschaftlichen Bezüge der Gegenwart habe man dabei stets vor Augen, betonte Rotter. Gerade vor dem Hintergrund von Krisen und Kriegen, Demagogen und Despoten auf dem Vormarsch, nervösen Gesellschaften rund um den Globus sei das Innehalten am 9. November geboten. „Veranstaltungen wie die heutige sind sehr wichtig, denn sie helfen uns, den inneren Kompass zu justieren und Kurs zu halten: für tolerantes Miteinander, für menschlich-fairen Umgang, für sozialen Zusammenhalt und demokratische Prinzipien.“ Vor schrecklichen Ideologen, die ihre vermeintlich „einfachen Lösungen“ in eine komplizierte Welt hinausposaunten, werde man nicht kapitulieren. „Zusammenkünfte wie die heutige erinnern uns an diese schlichte Erkenntnis: Das Gedenken an die Opfer von Diktatur und Barbarei ist und bleibt Verpflichtung. Es gibt keine Alternative zum Kurshalten, auch und gerade in Zeiten mit aufbrausendem Wind!“
Stadtverordnetenvorsteher Sven Sulzmann skizzierte gegen Ende der Gedenkstunde, die Reinhold Franz mit dem Saxophon wunderbar begleitete, die Schicksale der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die in der Nacht vom 10. auf den 11. November 1938 leiden mussten. Dazu las er die entsprechende Passage aus dem Band „Juden in Ober-Roden und Urberach“ des verstorbenen Heimathistorikers Norbert Cobabus vor, der das jüdische Leben in Rödermark vor einigen Jahren erforscht und kenntnisreich beschrieben hatte.
Der November 1938 in Rödermark und die Folgen
Wie verliefen die Ereignisse im November des Jahres 1938 in Rödermark? Mit einem Tag Verspätung, in der Nacht vom 10. auf den 11. November, wütete der braune Mob mit großer Brutalität in Urberach. Trotz, ohnmächtige Auflehnung gegen Hitler und die Nazis – vielleicht kamen der damals 24 Jahre alten Emmi Adler, als man sie schlug, solche Gedanken hoch, neben all der Angst und Verzweiflung, Fassungslosigkeit und Ratlosigkeit in jener Nacht, ihrer letzten im Haus in der Bahnhofstraße 20 in Urberach, die damals Hindenburgstraße hieß, wo ihre Familie seit Jahrzehnten ein Schuhgeschäft betrieb. Als Schuhverkäufer, Metzger und Tuchhändler, als leidenschaftliche Sänger und gute Fußballspieler, als Freundinnen und Freunde ihrer Schulkameraden, eben als ganz normale Nachbarn hatten sie bis 1933 unter ihren christlichen Mitbürgern gelebt. Am 13. Dezember 1938 meldete Bürgermeister Peter Ignaz Herdt dem Kreisamt in Dieburg, dass Urberach nunmehr „judenfrei“ sei.
Emmi Adler überlebte den Holocaust nicht. Zusammen mit ihrer Mutter Katinka und ihrem Vater Julius wurde sie in einem Lager in der Nähe von Riga erschossen. Ihr Onkel Hermann wurde in Theresienstadt ermordet, ihr Bruder „Luddi“ war schon 1936 nach Belgien geflohen und brachte sich 1940 in den USA in Sicherheit. In der Bahnhofstraße 18 wohnten Aaron Strauß (1863), Abraham „Arthur“ Katz (1901), Klara Katz (1903), Ludwig Strauss (1906) und Alfred „Fredsche“ Katz (1930). Ludwig Strauss gelang 1940 die Flucht, Aron Strauss und die Familie Katz wurden in Gefängnissen oder Lagern der Nazis ermordet. In der Darmstädter Straße 10 lebten der Metzger Isidor „Isaak“ Strauss (geboren 1881), Rosa Strauss (1886), Alfred Strauss (1912) und Walter Strauss (1921). Die beiden Söhne flohen 1937 in die USA, die Eltern folgten ihnen 1938 nach. Max Strauss (1878), der ebenfalls eine Metzgerei betrieb, seine Frau Jenny Strauss (1880) und ihre Tochter Ilse (später Rothschild, 1914) lebten in der Bahnhofstraße 10. Ilse konnte 1938 in die USA fliehen, ihre Eltern drei Jahre später.
Seit 2015 halten auch so genannte „Stolpersteine“ vor den ehemaligen Wohnhäusern der vier letzten jüdischen Familien die Erinnerung wach: 17 Steine für 17 Schicksale verlegte der für diese Aktion weithin bekannte Künstler Gunter Demnig. Jeder Stein ist mit einer Messingtafel verkleidet, in die der Name, der Jahrgang, das Jahr der Vertreibung und das weitere Schicksal des Familienmitglieds eingraviert sind.
Als die Nazis die Macht an sich rissen, waren sie in Ober-Roden die einzige jüdische Familie: Frieda Kahn, die Witwe des Schumachers Jakob Kahn, ihr Sohn Ludwig Kahn sowie ihre Tochter Berta Hecht und deren Ehemann Salomon Hecht mit den Kinder Rosel und Jaky. Die Ehe von Berta und Salomon war nicht glücklich – man trennte sich im Jahre 1935. Salomon versuchte, in seinen Heimatort Stargov in der Tschechoslowakei zu gelangen. Seitdem verliert sich jede Spur von ihm. Ludwig Kahn gelang es 1935, nach Palästina auszuwandern. Auch Jaky hat Glück: Er erhält eine Einwanderungsgenehmigung für Palästina – per Bahn und Schiff entflieht er im April 1939 dem Terror. An die sechs Mitglieder der Familie Hecht/Kahn erinnern seit 2013 sechs Stolpersteine.
In der „Kristallnacht“ zerstörte der Mob das Schuhgeschäft und die Wohnung von Berta Hecht und ihrer Mutter Frieda Kahn. Das Schuhgeschäft wurde im Februar 1939 abgemeldet, das Haus musste kurz danach zwangsverkauft werden. Frieda Kahn starb am 7. November 1940 in Ober-Roden – wo sie gewohnt hat, ist nicht bekannt. Unmittelbar nach dem Tod der Mutter verzog Berta nach Frankfurt. 1941 begannen die systematischen und flächendeckend angelegten Deportationen der Juden aus dem Deutschen Reich. In der Nacht vom 11. auf den 12. November hatten sich Berta und Rosel Hecht in der Großmarkthalle einzufinden – drei Tage zuvor war Rosel 16 Jahre alt geworden. In den frühen Morgenstunden verließen die Viehwaggons Frankfurt und brachten mehr als tausend Juden nach Minsk. Mit der Ankunft des Zuges verliert sich die Spur von Berta und Rosel. Ob sie im Ghetto durch Unterernährung oder Krankheit ermordet oder in einem nahegelegenen Vernichtungslager umgebracht wurden, ist nicht bekannt.