Freies Buch, freie Meinungsäußerung, Demokratie

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„Tag des freien Buches“: Stadt und NBS erinnerten am Jubiläumstag des Grundgesetzes mit einer Lesung an einstigen NS-Terror gegen Intellektuelle

Prophetische Worte von Heinrich Mann, geschrieben noch vor Hitlers Machtergreifung, eine scharfsinnige Analyse der politischen Situation in der Endphase der Weimarer Republik, eine Art letzter Warnruf – eine junge Frau trug diesen Ausschnitt eines Essays vor dem Bücherturm vor. Damit endete der erste Teil einer Aktion, die im Ober-Röder Ortskern für Aufsehen sorgte.

Oberstufenschülerinnen und -schüler der NBS waren von der Schule zur Stadtbücherei gezogen. Mit Hilfe mobiler Tontechnik hatten sie auf dem Fußweg Texte von Autoren zu Gehör gebracht, deren Werke im Mai 1933 verbrannt wurden. Im Rahmen einer propagandistisch inszenierten Bücherverbrennung hatten die Nationalsozialisten in Berlin und anderen Groß- und Universitätsstädten all das auf den Scheiterhaufen geworfen, was in ihren Augen „undeutsch“, „dekadent“ und „zersetzend“ war.

Daran erinnerte der Marsch der Schüler, und nach den Mann‘schen Worten, deren Aktualitätsbezug unverkennbar war, begann die eigentliche, zentrale Aktion: Unter der Überschrift „Tag des freien Buches“ hatten NBS und Stadt auf dem Vorplatz der Bücherei zum Zuhören und Nachdenken eingeladen. Texte von einstmals geächteten Dichtern und Denkern wurden vorgetragen – von Schülerinnen und Schülern, von Bürgermeister Jörg Rotter und Erster Stadträtin Andrea Schülner, von Regina und Jochen Schick, den beiden Aktivposten von LeseZeichen, dem Freundeskreis der Stadtbücherei.

Das Datum war von Schule und Stadt mit Bedacht gewählt worden. Just an diesem Tag wurde das Jubiläum „75 Jahre Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“ gefeiert. Die Lesung sollte den Wert freiheitlich-demokratischer Grundrechte unterstreichen. Regina Schick brachte es auf den Punkt: „Es geht nicht nur um die Würdigung der seinerzeit ‚verbrannten‘ Dichter, sondern dieser Tag ist eine Mahnung an uns, für unsere Demokratie einzustehen!“ Freies Buch, das bedeute freie Meinungsäußerung und Demokratie. Und die sei nicht nur bei uns gefährdet. In zahlreichen Ländern könne man nicht von einer vollständigen Demokratie sprechen, ganz abgesehen von den diktatorischen Systemen, unter denen Menschen in der ganzen Welt zu leiden hätten.

Zu diesen mahnenden Worten passte die Schilderung der vergeblichen Bemühungen eines Mannes um Aufnahme in „Das Gesetz“, ein Ausschnitt aus Kafkas „Urteil“, den Jochen Schick vortrug. Bürgermeister Rotter hatte zwei Gedichte von Ringelnatz mitgebracht - und Erste Stadträtin Schülner einen autobiographischen Text von Erika Pluhar, der zwar nicht zum Anlass des Tages im eigentlichen Sinne passte, aber das Lesen und die Welt der Bücher in eindringlichen Worten pries.

Die jungen Frauen und Männer kritisierten mit Kurt Tucholsky ein Schulsystem, dass den Wettbewerb schüre, Konversationslexikonwissen vermittele und antisoziale Eigenschaften fördere – dem Aufschwung der Nazis kam das in den dreißiger Jahren zugute. Beeindruckend auch der Brief von Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis, scharfsinnig die Analyse von Karl Marx aus „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte“, ein Text, der die Totalitarismus- und Faschismusforschung beeinflusste und in der Politikwissenschaft als ein bedeutendes Werk der politischen Theorie gilt.

Den Abschluss bildete ein autobiographischer Text des bedeutenden, heute aber fast vergessenen Romanciers Jakob Wassermann, der als Jude die Widersprüche einer Gesellschaft herausarbeitete, die sich gegenüber den Juden tolerant gab, letztendlich aber doch am alten Antisemitismus festhielt.

Mit auf den Nachhauseweg nahmen Beteiligte und Zuhörer Stoff zum Nachdenken und den Dank der beiden Hauptorganisatoren, Lehrer Andreas Zies und Jenny Roters, Leiterin der Stadtbücherei. „Es war eine wunderbare Veranstaltung“, meinte Roters. Mit Recht.

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