Wie verliefen die Ereignisse im November des Jahres 1938 in Rödermark? Mit einem Tag Verspätung, in der Nacht vom 10. auf den 11. November, wütete der braune Mob mit großer Brutalität in Urberach. Trotz, ohnmächtige Auflehnung gegen Hitler und die Nazis – vielleicht kamen der damals 24 Jahre alten Emmi Adler, als man sie schlug, solche Gedanken hoch, neben all der Angst und Verzweiflung, Fassungslosigkeit und Ratlosigkeit in jener Nacht, ihrer letzten im Haus in der Bahnhofstraße 20 in Urberach, die damals Hindenburgstraße hieß, wo ihre Familie seit Jahrzehnten ein Schuhgeschäft betrieb. Als Schuhverkäufer, Metzger und Tuchhändler, als leidenschaftliche Sänger und gute Fußballspieler, als Freundinnen und Freunde ihrer Schulkameraden, eben als ganz normale Nachbarn hatten sie bis 1933 unter ihren christlichen Mitbürgern gelebt. Am 13. Dezember 1938 meldete Bürgermeister Peter Ignaz Herdt dem Kreisamt in Dieburg, dass Urberach nunmehr „judenfrei“ sei.
Emmi Adler überlebte den Holocaust nicht. Zusammen mit ihrer Mutter Katinka und ihrem Vater Julius wurde sie in einem Lager in der Nähe von Riga erschossen. Ihr Onkel Hermann wurde in Theresienstadt ermordet, ihr Bruder „Luddi“ war schon 1936 nach Belgien geflohen und brachte sich 1940 in den USA in Sicherheit. In der Bahnhofstraße 18 wohnten Aaron Strauß (1863), Abraham „Arthur“ Katz (1901), Klara Katz (1903), Ludwig Strauss (1906) und Alfred „Fredsche“ Katz (1930). Ludwig Strauss gelang 1940 die Flucht, Aron Strauss und die Familie Katz wurden in Gefängnissen oder Lagern der Nazis ermordet. In der Darmstädter Straße 10 lebten der Metzger Isidor „Isaak“ Strauss (geboren 1881), Rosa Strauss (1886), Alfred Strauss (1912) und Walter Strauss (1921). Die beiden Söhne flohen 1937 in die USA, die Eltern folgten ihnen 1938 nach. Max Strauss (1878), der ebenfalls eine Metzgerei betrieb, seine Frau Jenny Strauss (1880) und ihre Tochter Ilse (später Rothschild, 1914) lebten in der Bahnhofstraße 10. Ilse konnte 1938 in die USA fliehen, ihre Eltern drei Jahre später.
Seit 2015 halten auch so genannte „Stolpersteine“ vor den ehemaligen Wohnhäusern der vier letzten jüdischen Familien die Erinnerung wach: 17 Steine für 17 Schicksale verlegte der für diese Aktion weithin bekannte Künstler Gunter Demnig. Jeder Stein ist mit einer Messingtafel verkleidet, in die der Name, der Jahrgang, das Jahr der Vertreibung und das weitere Schicksal des Familienmitglieds eingraviert sind.
Als die Nazis die Macht an sich rissen, waren sie in Ober-Roden die einzige jüdische Familie: Frieda Kahn, die Witwe des Schumachers Jakob Kahn, ihr Sohn Ludwig Kahn sowie ihre Tochter Berta Hecht und deren Ehemann Salomon Hecht mit den Kinder Rosel und Jaky. Die Ehe von Berta und Salomon war nicht glücklich – man trennte sich im Jahre 1935. Salomon versuchte, in seinen Heimatort Stargov in der Tschechoslowakei zu gelangen. Seitdem verliert sich jede Spur von ihm. Ludwig Kahn gelang es 1935, nach Palästina auszuwandern. Auch Jaky hat Glück: Er erhält eine Einwanderungsgenehmigung für Palästina – per Bahn und Schiff entflieht er im April 1939 dem Terror. An die sechs Mitglieder der Familie Hecht/Kahn erinnern seit 2013 sechs Stolpersteine.
In der „Kristallnacht“ zerstörte der Mob das Schuhgeschäft und die Wohnung von Berta Hecht und ihrer Mutter Frieda Kahn. Das Schuhgeschäft wurde im Februar 1939 abgemeldet, das Haus musste kurz danach zwangsverkauft werden. Frieda Kahn starb am 7. November 1940 in Ober-Roden – wo sie gewohnt hat, ist nicht bekannt. Unmittelbar nach dem Tod der Mutter verzog Berta nach Frankfurt. 1941 begannen die systematischen und flächendeckend angelegten Deportationen der Juden aus dem Deutschen Reich. In der Nacht vom 11. auf den 12. November hatten sich Berta und Rosel Hecht in der Großmarkthalle einzufinden – drei Tage zuvor war Rosel 16 Jahre alt geworden. In den frühen Morgenstunden verließen die Viehwaggons Frankfurt und brachten mehr als tausend Juden nach Minsk. Mit der Ankunft des Zuges verliert sich die Spur von Berta und Rosel. Ob sie im Ghetto durch Unterernährung oder Krankheit ermordet oder in einem nahegelegenen Vernichtungslager umgebracht wurden, ist nicht bekannt.