Ein würdiger Ort für die „Staanern Kutsch“

|   Aktuelles

Legendärer Gesteinsblock wird im Foyer des Rathauses Ober-Roden ausgestellt – Zeugnis einer „Dorfgeschichte“ um einen Raubüberfall und das schlechte Gewissen der alten Ober-Röder

Die „Staanern Kutsch“ hat einen würdigen Platz gefunden: Der legendäre Gesteinsblock, der viele Jahre im Betriebshof der Stadt zugewuchert in einen Dornröschenschlaf gefallen war, ziert seit Montag dieser Woche das Foyer des Rathauses in Ober-Roden. Offiziell der Öffentlichkeit übergeben wurde das historische Denkmal dann am Dienstag. „Das passt hier gut rein. Damit präsentieren wir im Rathaus ein Stück Ober-Röder Geschichte“, sagte Bürgermeister Jörg Rotter. Seine Gäste bei der kleinen Einweihungsfeier waren Patricia Lips, Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Heimat- und Geschichtsvereins, und Pfarrer Elmar Jung von der St. Nazarius-Gemeinde. Außerdem sein Referent Thomas Mörsdorf, der die Präsentation des geschichtsträchtigen Steins im Rathausfoyer angeregt hatte.

Die „Staanern Kutsch“ ist das steinerne Zeugnis einer jahrhundertealten Legende um einen Raubüberfall und das schlechte Gewissen der alten Ober-Röder. „Ein schönes Zeugnis aus der Vergangenheit, das zu einer wunderbaren alten Legende gehört“, meinte Patricia Lips. „Die Wahrheit werden wir nie erfahren. Aber es wäre doch umso schöner, wenn die ‚Staanern Kutsch‘ in Wirklichkeit der Sockel eines Flurkreuzes gewesen sein sollte.“ Pfarrer Jung freute es, dass ein Stück Vergangenheit in die Gegenwart gerückt worden sei. Und wenn es denn tatsächlich einen Raubüberfall gegeben haben sollte, dann sei das kleine Monument doch eine Form der Vergangenheitsbewältigung. „Mir gefällt es vor allen Dingen als sichtbares Zeichen dafür, dass Dinge, die passiert sind, im Bewusstsein der Menschen bleiben.“

Was hat es nun mit der Geschichte von der „Staanern Kutsch“ auf sich? Sie geht so: „Lang, lang ist es her, und es muss die schiere Not gewesen sein, die die Oweräirer zu nachfolgendem Tun trieb. Sie rotteten sich zusammen und überfielen nämlich auf der Straße nach Frankfurt – etwa in Höhe des heutigen Germania-Sportplatzes – eine Kutsche. Sie zerrten den Karren reicher Leute einfach in den Dreck. Ob sich der Überfall gelohnt hat, wissen wir nicht. Wir vermuten nur, dass die Oweräirer ihre Tat später gereut hat. Sie setzten nämlich einen Gedenkstein, der einer Kutsche ähnelt, an jene Stelle, wo der Überfall stattgefunden haben soll. Alte Bürger wissen sogar von einem in den Stein eingeritzten Kreuz. Reste von der ‚Staanern Kutsch‘ hat der Ober-Rodener Bauhof gesichert.“ Festgehalten wurde die Mär einst von Adam Reisert in seinen Mundarterzählungen „Oweräirerisch" …wie schäi! Dorfgeschichten aus Ober-Roden“, die der Heimat- und Geschichtsverein Rödermark herausgab.

Jahrelang stieß diese Geschichte auf interesseloses Wohlgefallen. Bis sie von Armin Lauer, dem damaligen Fraktionsvorsitzenden der SPD in der Stadtverordnetenversammlung, sozusagen „entdeckt“ wurde. Lauer wollte es 2015 genauer wissen und formulierte einen Berichtsantrag. Nein, nicht der Wahrheitsgehalt der Erzählung an sich interessierte ihn, sondern nur der des letzten Satzes: ob der Gedenkstein namens „Staanern Kutsch“ also gesichert wurde und noch existiert? Der Magistrat ließ sich nicht lange bitten und der Sache mit wissenschaftlicher Akribie nachgehen. Und zwar in Person von Katharina Dittrich, die damals als Archäologin mit einem städtischen Promotionsstipendium im Jägerhaus die Ausgrabungen von Professor Egon Schallmayer aufarbeitete. Ihr Exkurs in die Welt der Dorfgeschichten förderte einige interessante Fakten zutage, die sie am 10. Juni 2015 den Mitgliedern des Parlamentsausschusses für Familie, Soziales, Integration und Kultur an Ort und Stelle präsentierte: im Bauhof. Denn dort wurde die „Staanern Kutsch“ seit Mitte der Siebziger Jahre tatsächlich gelagert. Freigelegt worden war der große Gesteinsblock schon 1953 bei einer Flurbereinigung im Bereich der Kreuzung Frankfurter Straße/Karnweg.

Damit wäre die Frage Lauers eigentlich beantwortet gewesen. Doch nun wollte es Katharina Dittrich genauer wissen. Was hat es mit dem Stein auf sich? Wozu diente er? Beruht die Geschichte auf historischen Tatsachen? Diesen Fragen ging sie mit wissenschaftlicher Methodik nach. Und das heißt zunächst: messen und beschreiben. Dittrich: „Das Objekt aus rotliegendem Sandstein hat eine maximale Breite von 1,02 Meter und misst 0,6 Meter in der Höhe bei einer Tiefe von 0,69 Meter. Der Stein ist allseitig grob zugerichtet. Im oberen Bereich befindet sich eine rechteckige Aussparung (0,42 m x 0,15 x 0,24 m), welche sich zu einer der Längsseiten (evtl. der Vorderseite) öffnet. In diesem Bereich lässt sich auch eine schwarze Verfärbung feststellen. Darüber hinaus scheint es, als sei im vorderen Bereich rote Farbe aufgetragen worden. Die rechte Seite wirkt verglichen mit den restlichen Flächen eher eben; eventuell wurde hier eine Art Verputz aufgetragen. Abgesehen von der Aussparung sind die übrigen Oberflächen wahrscheinlich sekundär überarbeitet. Das Objekt selbst lässt sich nur schwer deuten oder gar datieren, Reste einer Inschrift oder ähnliches konnten nicht festgestellt werden.“ Wie in der Legende von der „Staanern Kutsch“ bereits angedeutet, sieht der Volksmund in dem vorliegenden Steinobjekt eine Wiedergabe des Kutschbockes der Kutsche, die an dieser Stelle überfallen worden sein soll. „Über Ähnlichkeiten oder Unterschiede kann und darf sich jeder sein eigenes Urteil bilden“, so Katharina Dittrich.

Zweiter Schritt: Vergleichen, und zwar „mit ähnlichen Objekten desselben Kontextes“. Eines fand Dittrich zwischen Weichersbach und Gundhelm im Main-Kinzig-Kreis, den sogenannten „Sterbfritz“, ein armloses Steinkreuz, zu dem ein Sockelstein gehört, der im Volksmund „Tiegel“ genannt wird. Das Steinkreuz, so Dittrich, sei ursprünglich in dessen Aussparung eingelassen gewesen, um seine Standfestigkeit zu gewährleisten. Ausgehend von der Form des Sockelsteins habe sich die Sage entwickelt, dass eine geizige Müllerin einen Handwerksburschen mit einem eisernen Tiegel erschlug, weil dieser sie vehement um Nahrung gebeten habe. Als Strafe für ihr Handeln sei die Müllerin selbst in einen steinernen Tiegel verwandelt worden. „Dieses Beispiel zeigt deutlich, wie die Form eines Objektes maßgeblich zur Legendenbildung beitragen kann.“ Die meisten Steinkreuzsagen seien als Erklärsagen zu klassifizieren, „sie wollen die Setzung des Kreuzes begründen und sind häufig von Ereignissen der jüngsten oder jüngeren Vergangenheit inspiriert. Sie sind für die Steinkreuzforschung in vielen Fällen nicht ergiebig.“

Dritter Schritt: Eine erste Hypothese aufstellen. Aus der Form der „Staanern Kutsch“ mit der auffälligen Aussparung und dem Vergleich mit dem „Sterbfritz“ zog Dittrich den Schluss, dass es sich auch bei dem Ober-Röder Gesteinsblock um das Fundament oder den Sockel eines sogenannten Wege- oder Flurkreuzes handelt, die in katholischen Gegenden häufig auftreten, ob an Wegen, Straßen, am Feldrand oder im Wald. „Häufig findet man sie an alten Fernwegen. So wurde der vorliegende Sockel im Bereich der heutigen Parkplatzzufahrt des Germania-Sportplatzes sichergestellt, wo sich ehemals die Frankfurter Straße und der Karnweg kreuzten. Der Karnweg war sowohl Heeresstraße als auch Postweg.“ Bereits im Mittelalter, so Dittrich, besonders aber in der Zeit zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert habe man steinerne Kreuze errichtet, damals jedoch als „Sühnekreuze“ (beispielsweise für begangenes Unrecht). „Später dienten die Flur- und Wegekreuze dem Schutz der Reisenden oder markierten Wegkreuzungen bzw. gefährliche Stellen. Nach Prof. Dr. Schallmayer ist das vorliegende Stück etwa in das 18. Jahrhundert – eventuell auch früher – zu datieren.“

Vierter Schritt: Schriftliche Quellen zurate ziehen. Wann und warum das Feldkreuz aufgestellt wurde und wie es ursprünglich aussah, darüber könnte man möglicherweise in den Archiven etwas finden, dachte sich Katharina Dittrich. In der „Flurchronik von Ober-Roden und Messenhausen“ aus dem Jahr 1986 erwähnt auch der Rödermärker Architekt Dr. Siegbert Huther die „Staanern Kutsch“, die bereits im Jahr 1828 „Legende“ gewesen sei. In alten Gemeindebüchern stehe geschrieben: „Im Sommer ist die steinerne Kutsche im Frankfurter Weg weggerückt worden, wegen Ausbesserung des Weges nach Frankfurt.“ Bei einem Telefonat teilte er Dittrich mit, diese Informationen von einem Herrn Weber erhalten zu haben, der sich in den 1930er Jahren mit dieser Thematik beschäftigte. Doch im Stadtarchiv fanden sich keinerlei schriftliche Aufzeichnungen dazu.

Aber: Das unmittelbar an den vermuteten Aufstellungsort angrenzende Gewann trägt die Bezeichnung „Am Kreuz“ – laut Dittrich „ein deutlicher Hinweis, dass in unmittelbarer Nähe ein Flurkreuz aufgestellt gewesen sein könnte“. Dabei müsse es sich jedoch andererseits nicht unbedingt um die „Staanern Kutsch“ handeln, da an der Nieder-Röder Straße, also unmittelbar benachbart, ebenfalls ein Flurkreuz anzutreffen ist. Weitere Nachforschungen zu diesen Flurnamen und deren erstmaliger Erwähnung erbrachten keine weiteren Erkenntnisse. Insgesamt, so Dittrich, seien die archivalischen Quellen im Hinblick auf das vorliegende Objekt nicht aussagekräftig.“

Dittrichs Fazit: „Zu den Ursprüngen wie auch dem Wahrheitsgehalt der Legende von der ‚Staanern Kutsch‘ können keine gesicherten Aussagen gemacht werden. Sie könnte sicherlich in Zusammenhang stehen mit einem tatsächlich dort begangenen Überfall auf eine Kutsche. Wahrscheinlicher ist jedoch die Vermutung, dass die Legende sich aufgrund der äußeren Form des Steines und dessen optischer Ähnlichkeit mit einem Kutschbock gebildet hat. Die Deutung des Objektes als Sockelstein eines Flurkreuzes ist daher die naheliegendste.“

Zurück
Im Dornröschenschlaf auf dem Betriebshof.
Back to Top